Wie hast du den Wunsch entwickelt Filmemacher zu werden und wie war dein Karriereweg?
Der Wunsch entwickelte sich als ich noch ein Jugendlicher war. Da ich kein Kabelfernsehen zuhause hatte, habe ich viele DVDs ausgeliehen und bin oft ins Kino gegangen. Der Vater eines Kumpels arbeitete beim RTBF und wir schafften es etwas Filmmaterial zu bekommen. Wir haben einen kurzen Horrorfilm gedreht, in dem wir mitgespielt und den wir mit einem kleinen Schnittprogramm bearbeitet haben. Wir haben diesen Film auf einem Festival für junge Filmemacher:innen präsentiert und den ersten Preis gewonnen. Ich war 13 und das war ein echter Auslöser. Mit 18 schrieb ich mich am INSAS (Institut Supérieur des Arts de Bruxelles) ein, um Kameramann zu werden. Ich lernte die Bedeutung von Brennweiten, wie man mit Kamerabewegungen, mit Licht eine Geschichte erzählt. Für mich war die Schule eine echte technische Ausbildung. Ich habe drei Kurzfilme gedreht, bevor mich eine Produktionsfirma bat, an einem Spielfilm mitzuarbeiten.
Haben diese Kurzfilme in irgendeiner Weise „Le Paradis“ angekündigt?
Ich glaube, dass ich vor allem in meinem letzten Kurzfilm, „Jay parmis les hommes“, die Themen von „Le Paradis“ aufgriff. Darin ging es um einen Teenager, der erkennt, dass er ein Mädchen mit nach Hause bringen muss, um seinem Vater zu gefallen. In dem Film ging es noch um Emanzipation, Geschlechterstereotypen, das Gebot der Männlichkeit und Heterosexualität.
Wie erreichte dich das Thema von „Le Paradis“ für diesen Spielfilm?
Ich bin auf der einen Seite tunesischer und auf der anderen Seite belgischer Herkunft und bin in Brüssel aufgewachsen. Als ich ein Teenager war, sah ich, wie mein Cousin durch diese Zentren ging. Das hat mich dazu gebracht, mir viele Fragen zu stellen, denn das hätte auch mir passieren können. Obwohl ich einen „Pass“ habe, von dem man sagt, dass er „weiß“ ist, dass er nicht zeigt, dass ich Tunesier bin, habe ich diesen Einsatz von institutionellem Rassismus miterlebt. Mein Cousin wurde wegen kleinerer Vergehen inhaftiert, und ich sah die Verachtung der Gesellschaft gegenüber diesen jungen Menschen in den Gerichten und die systemische Sackgasse, in die sie geraten und die sie oft ins Gefängnis oder auf die Straße bringt. Ich entwickelte eine kritische Perspektive auf diese Institutionen, die unsichtbar gemacht werden, und versuchte, einen nicht manichäischen Blick zu kreieren. Es gab auch und vor allem den Wunsch, eine Liebesgeschichte zwischen zwei Teenagern zu erzählen, wie ich sie mir in diesem Alter gewünscht hätte. Auch wenn sich die gesellschaftliche Landschaft ziemlich verändert hat, seit ich mit dem Schreiben begonnen habe, war das Herzstück des Projekts immer der Wunsch nach einer ungehemmten Liebe. Mit 32 Jahren bin ich gut zehn Jahre von dieser ungehemmten, fließenden, kraftvollen Jugend entfernt, und ich musste den Film wirklich auf ihr Niveau bringen, nicht einen Zentimeter darunter.
Wir spüren eine Verwandtschaft mit der Arbeit Jean Genets. Ist er ein wichtiger Autor und Regisseur für dich?
Er ist jemand, der mir die Türen zu einer revolutionären Kraft geöffnet hat und der es mir ermöglicht hat, eine aktivistische Sichtweise auf die Welt zu entwickeln und meinen Willen zu gestalten. Er hat mir erlaubt, mich selbst zu lieben. Die Architektur dieser Liebesgeschichte basiert auf seinen Themen und insbesondere auf der Idee der Homoerotik in einer Gefängnisumgebung. In gewisser Weise fühlte ich mich von Genet bei diesem Werk der Kritik an einer Institution und der Verherrlichung des Wunsches nach Liebe gut begleitet.
Was waren die anderen Marker, die den Schreibprozess zu diesem Film geleitet haben, den du gerne gesehen hättest als du jünger warst?
Beim Schreiben stand vor allem der Wunsch im Vordergrund, eine queere arabische Figur zu inszenieren, die Zugriff hat auf ihre schwule Sehnsucht und sich auf den eigenen Weg macht. Alle maghrebinischen Figuren im Film, die mit queeren Fragen konfrontiert werden, sind in der Regel nicht geoutet, einer verinnerlichten Homophobie unterworfen oder erscheinen als Objekte der Begierde, sie leiden an schmerzhaften Erlebnissen, die meist mit islamfeindlichen Untertönen behaftet sind. Das war nicht meine Realität, ich wollte eine stolze, sinnliche Figur, die ihr Leben und ihr Begehren selbst in die Hand nimmt. Die von Bachar Mar-Khalifé komponierte Musik war sehr wichtig, um diesen Stolz, insbesondere in Bezug auf die Herkunft, zu verstärken. Mit Bachar wollten wir, dass die Musik wie die Stimme von Joes Seele ist. Ich war auch sehr von den Schriften von Rûmî beeinflusst, einem persischen Dichter des Mittelalters, mit dem ein Zweig des Islams beginnt, der Sufismus genannt wird – eine Religion, die den Zugang zur Spiritualität durch den Körper, durch den Tanz, ermöglicht. Ich habe Bachar einige Gedichte gegeben, damit er sich von ihnen inspirieren lassen und sie in Worte fassen kann. Diese Schriften sind fleischlich, sinnlich. Man munkelt, dass Rûmî all diese Gedichte für einen Geliebten geschrieben hat und dass er dank seiner intimen Beziehung zu ihm die göttliche Gnade erreicht haben könnte. So waren Genet und Rûmî meine Schiffskapitäne. Das brachte mich auf die Universalität der Liebe, es ist eben keine Frage der sexuellen Orientierung. Ich wollte, dass sich die Menschen mit dieser Liebesgeschichte identifizieren können, weil sie uns ins Heilige führt, ohne auf eine intime Geschichte der Überwindung der Scham reduziert zu werden, die schon oft erzählt worden ist.
War es deshalb nötig, sich von dem „Déjà Vu“, wie „Coming of Age“ oder „Gay Romance“ im Kino ansonsten dargestellt werden, zu lösen?
Was mir sehr geholfen hat, war, dass ich mich vorher mit dem Thema Emanzipation beschäftigt habe, ich hatte das Thema schon ein bisschen eingeübt. Und dann war meine große Inspiration diese heutige Jugend, die viel fließender ist, für die die Frage der sexuellen Orientierung nicht mehr wirklich eine Frage ist. Das hat mich dazu gebracht, das Potenzial der Jugend zu feiern: das Potenzial für das Leben, für den Widerstand, für die Revolution. Ich wollte aufs Ganze gehen und mich auf Konflikte konzentrieren, die direkt mit Leidenschaft zu tun haben: Begehren, Mangel, Verrat, Schutz. Ich wollte eine vielleicht leicht utopische Darstellung des Themas zeigen, mit dem Wunsch, den Betrachter zu dem zu treiben, was als nächstes passiert. Ich habe den Eindruck, dass in „Coming-out”-Filmen nie erzählt wird, was danach passiert – die Beziehung, die darauf folgt, ihre eigenen Konflikte. Ich wollte auch zeigen, dass Leidenschaft, Schutz und gegenseitige Hilfe eine Form von Ausstrahlung erzeugen können. Ich wollte, dass ihre Beziehung auf das Kollektiv ausstrahlt und dass sie am Ende dank ihrer Liebe gemeinsam eine revolutionäre Kraft schaffen können. Und es gab auch die Idee, dass diese Liebe nicht etwas sein sollte, das andere abstößt, weil ihr Zustand als Gefangene Vorrang vor allem anderen hat: Klasse, Rassismus oder Homosexualität. Das Gefängnis schafft eine Gemeinschaft von Ausgestoßenen, die die Unterschiede aufhebt, welche die Gesellschaft normalerweise zur Trennung benutzt. Dieses Kollektiv schafft eine Dynamik, eine Kraft, die die Zärtlichkeit in den Vordergrund rückt. Ich halte es für viel subversiver, Zärtlichkeit zwischen Jungen zu zeigen, als Sexualität, und darauf haben wir uns konzentriert. Das ist ein Schritt weg von vielen schwulen Filmen, in denen sexuelle Beziehungen mit einer Brutalität versehen sind, die mit einer Form von Hemmung oder Scham verbunden ist. „La Belle Personne“ von Christophe Honoré hat mich durch seine Parallelgeschichte mit zwei schwulen Jungen, die sich in der Klasse Liebesgedichte schicken, sehr beeindruckt, er war unendlich zärtlich. Ich wollte unbedingt, dass das Publikum Zugang zu dieser Möglichkeit der Zärtlichkeit und Sinnlichkeit hat, dass es sich damit identifizieren kann und dass wir verschiedene Männlichkeiten darstellen können.
Ist deine Meinung, dass die Tatsache, dass Homosexualität nicht länger das Hauptthema eines Films ist, ein Beitrag zu einer Form der Normalisierung des queeren Kinos?
Ja, aber selbst bei dieser Idee der Normalisierung führt die Darstellung einer queeren Person auf der Leinwand immer zu einer politischen Fragestellung. Filme wie „The Celluloid Closet“ und in jüngerer Zeit sein Gegenstück zur Trans-Frage, „Disclosure“, erlauben es uns, den Fortschritt in Sachen Repräsentation zu messen und zu überlegen, was als Nächstes ansteht, verhindern aber nicht, dass eine Form des Konservatismus mit aller Macht zurückkehrt. #Metoo kündigte eine Form der antisexistischen, queeren und antikolonialen Revolution an, aber meiner Meinung nach hat Covid diese aufkommenden Bewegungen im Keim erstickt. Was in den Vereinigten Staaten passiert, ist in Bezug auf queere oder feministische Politik überhaupt nicht beruhigend.
Wie hast du Khalil Gharbia und Julien de Saint Jean gefunden, die deine beiden Hauptfiguren spielen?
Die Treffen fanden ganz klassisch nach einem Casting in Frankreich und Belgien statt. Mit Khalil haben wir von Anfang an viel über seine Helden gesprochen: Jim Morrison, Kurt Cobain oder David Bowie. Er ist sehr rockig, und das hat ihn dazu gebracht, Stereotypen von Männlichkeit zu dekonstruieren, was für einen damals gerade mal 19 Jahre alten Jungen recht selten ist. Er ist sehr sensibel, sehr nah an seinen Gefühlen, an der Natur, an den Tieren, das hat mich sehr berührt. Und er hatte kein Problem mit der Rolle, mit dem Drehbuch, was beim Casting mit migrantischen und postmigrantischen Schauspielern nicht immer der Fall war, die eine Art Homophobie der Filmindustrie fürchten, die sie in eine Schublade stecken würde. Khalil kümmerte sich nicht darum und war für einige bereits ein echtes Sexsymbol nach der Serie „Skam“ oder „Léas 7 Leben“. Er weiß, wie man mit seinem Image spielt, und das war offensichtlich. Bei Julien hatte man auch recht schnell ein Gefühl der Bestätigung. Er ist sehr fleißig, er kam zur zweiten Castingrunde, nachdem er das Soziologiebuch über die IPPJ (Öffentliche Einrichtung zum Schutz der Jugend) gelesen hatte, über das ich in der ersten Runde mit ihm gesprochen hatte. Er war sehr scharf auf diese Rolle. Er hatte eine sehr klare Vorstellung von William, was die Sensibilität anging, und er sagte mir sofort, dass er der zerbrechlichere der beiden sei, auch wenn ich mir dessen noch nicht bewusst war. Das sind zwei Schauspieler, die mir während der Vorbereitung ermöglicht haben, das Drehbuch für sie umzuschreiben, weil sie mich menschlich sehr berührt haben.
Was stand für dich, der als Kameramann ausgebildet wurde, bzgl. der Prinzipien der Inszenierung an erster Stelle?
Es bestand offensichtlich der Wunsch, die Leidenschaft durch die Form zu steigern, eine lyrische Form mit Kamerabewegungen, leicht verfremdeten Lichtern, hellen Farben, die es ermöglichten, vom Naturalismus wegzukommen, der oft mit dieser Art von Institution verbunden ist. Ich wollte, dass das Thema des Films dank des Bildes sehr deutlich wird: Liebe und Leidenschaft sollten auf eine unbeschwerte Art und Weise gefilmt werden, daher die Wahl von Cinemascope, Travellings, anamorphotischen Objektiven mit sehr aquatischen Texturen in den Unschärfen, um diesen leicht magischen Aspekt zu vermitteln. Es war auch mit dem Wunsch verbunden, fehlende Bilder zu schaffen. Natürlich habe ich Jean Genets „Un chant d’amour“ gesehen, dem „Le Paradis“ Tribut zollt, oder Fassbinders Filme wie „Querelle“, und ich wollte in die Fußstapfen dieser Filmemacher treten, die keine Angst vor Liebesgeschichten zwischen Jungen haben und wichtige Bilder geschaffen haben. Aber diese Bilder haben in meiner Karriere als Regisseur gefehlt, ich wollte sie machen, sie schaffen, aufgeladen mit diesem Erbe. Während der Vorbereitung haben wir auch „Happy Together“ von Wong Kar Wai gesehen, weil es ein Film ist, der sich für nichts entschuldigt, der von Tränen, Schreien und Leidenschaft erzählt und der Lyrik nicht scheut. Mir gefällt auch die Idee, dass in dem Film verschiedene Kunstformen nebeneinander existieren: Tanz, Zeichnen, Rap, Tätowieren …
Wieso hast du den Titel „Le Paradis“ gewählt?
Es kommt wirklich von der Geschichte der Schlange, die ein Territorium des Schutzes außerhalb der Kontrolle der herrschenden Klassen schafft, und das war für mich ein Symbol, das sich im Film auf eine sehr reiche Weise entfalten würde, um das unsichtbare Territorium ihrer Liebe zwischen ihren beiden Zellen zu schaffen. Es steht für den Ort der Freiheit, den sie sich innerhalb dieser Institution schaffen, bestimmt von Routinen, Wiederholungen, einer gewissen Vorstellung von der Hölle. Es öffnet die Türen zum Licht. Der Begriff des Paradieses verstärkt die Idee, sich nach einem anderen Ort auszustrecken, der weit entfernt ist von der Scheinfreiheit, die Joe am Anfang angeboten wird. Wir erwarten, dass er aussteigt, seine Wiedereingliederung ist geplant, aber das ist nicht das, was er will, denn da draußen gibt es niemanden, den er lieben kann. Die Ankunft von William wird die Situation verändern und die Idee der Freiheit von zweien und nach Joes eigenen Entscheidungen katalysieren. William wird ihm helfen zu erkennen, dass die einzige wahre Freiheit die Liebe ist.